Wie haben wir das bloß überlebt?
Über unsere Kindheit vor Handy, Playstation und Internet
Für uns als Kinder in den 50er- und 60er Jahren ist es zurückblickend kaum zu glauben, dass wir so lange überleben konnten! Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags. Unsere Bettchen waren angemalt in strahlenden Farben voller Blei und Cadmium. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit Bleichmittel. Auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm. Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Damit kamen wir nach einigen Unfällen klar. Wir verließen morgens oder spätestens mittags das Haus zum Spielen in den Strudelberg. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste, wo wir waren, und wir hatten nicht mal ein Handy dabei! Wir haben uns geschnitten, brachen uns Knochen und Zähne, fielen in die Iller und niemand wurde deswegen verklagt. Es waren eben Unfälle. Niemand hatte Schuld, außer wir selbst.
Wir aßen rohes Sauerkraut, Essiggurken, Granatsplitter, Wundertüteninhalt ohne Verfallsdatum, Schlagrahm, Schleckeis vom Karg, Deisel, Schön, Knoll, Durst, Pfänder, Schwald, Haberstock, Mühlhuber, Schneider, Mendler oder Rietzler und wurden trotzdem nicht zu dick. Wir hatten keine so guten Zähne, schon gar keine Zahnspangen. Wir tranken mit unseren Freunden aus einer Flasche, aßen vom Boden und niemand starb an den Folgen. Wir lasen Mickymaus-, Nick-, Sigurd- und Akimhefte bei Frau Deisel und lernten lesen, vor allem aber tauschen und teilen, weil keiner genug Geld für alle Hefte hatte. Wir hatten nicht: Playstation, Nintendo 64, X-Box, Videospiele, 64 Fernsehkanäle, Filme auf Video, Surround-Sound, eigene Fernseher, Computer, Internet-Chatrooms. Zum Fernsehen trafen wir uns beim Wurzer. Später in Massen wechselweise bei den wenigen, die schon so ein Gerät hatten und wir lernten zu warten, weil der Fernseher fünf Minuten brauchte bis er warm war. Wir hatten Freunde. Wir gingen einfach raus und trafen sie auf der Straße. Oder wir marschierten einfach zu deren Heim und klingelten. Manchmal brauchten wir gar nicht klingeln, sondern gingen einfach hinein. Keiner brachte uns, keiner holte uns. Keiner telefonierte. Wie war das nur möglich?
Wir hatten keinen Freizeitstress. Unsere Schier waren aus Holz, die Schlittschuhe hielten an den Sohlen besser, als die Sohlen an den Schuhen. Die Winterkleidung war wasserdurchlässig. Wir hatten Rotznasen und gingen trotzdem in die Schule. Wir standen in keinem Stau, höchstens an unseren selbstgebauten Schanzen, Slalomstrecken und Rodelbahnen.
Wir dachten uns Spiele aus mit Holzstöcken, Blechbüchsen und Tennisbällen, schlugen mit Holzschwertern auf uns ein. Außerdem sammelten wir Würmer, Schnecken, fingen Frösche, Fische, Krebse und Maikäfer, nahmen sie in die Hand, bohrten danach in der Nase ohne uns vorher die Hände zu waschen. Und die Prophezeiungen trafen nicht ein: Die Würmer und Käfer lebten nicht in unseren Mägen für immer weiter, und mit den Stöcken stachen wir nicht besonders viele Augen aus, an den Blechbüchsen schnitten wir uns nur gelegentlich. Wir züchteten Mäuse, Hühner, Wellensittiche, Hasen und Meerschweinchen und keiner bekam eine Allergie, Neurodermitis oder die Vogelgrippe. Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung. Aber gerade diese waren besonders stark und gewitzt. Wer so einen Sitzenbleiber zum Freund hatte, war gut dran. Wer vom Lehrer eine Ohrfeige oder Datzen bekam hütete sich zu Hause was zu erzählen, weil eine weitere Ohrfeige dann nicht ausblieb. Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung. Mit alldem wussten wir umzugehen. Wir gehören auch dazu und haben alle ganz schön lange überlebt und sind doch auch heute recht zufrieden. Beglückwünschen wir uns doch gegenseitig unsere Kindheit damals verbracht zu haben!